Mesum 2002
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Nachdem der Kampf um Moral immer wieder gegen die Schwulen, die vermeintlich Unmoralischen, geführt wurde, möchten wir nicht länger in einer defensiven
Verteidigungshaltung die Normen heterosexueller Moral zurückdrängen, sondern nach den Moral-Konstruktionen schwuler Christen fragen. Sind unter uns nicht auch 'Moralisten'?
Die drei Leitperspektiven sollen dazu dienen, Bausteine schwuler Moral zu entdecken und zu heben.
Kann uns mit Bausteinen schwuler Moral eine theologisch inspirierte Debatte gelingen, die außerhalb des schwul-theologischen Binnenmilieus auch in Kirchen, Gesellschaft und „Szene“ als spezifischer Beitrag wahrgenommen wird?
Die ausführliche Berichterstattung ist abgedruckt in der Offenen Werkstatt des Heftes 1/2002 (Schwule KirchenVäter)
Last und Lust der Bilder
Mildes Herbstlicht verlieh dem Münsterland am ersten Novemberwochenende des Jahres 2000 eine friedlich-entspannte Stimmung. Zeit für 20 schwule Theologen, aufzubrechen ins westfälische Mesum, um sich mit Gleichgesinnten über „Last und Lust der Bilder" auszutauschen. Hatte die Werkstatt „Wunsch-Bilder" bereits einige Denkanstöße geliefert, so bestand nun die Möglichkeit, noch intensiver in die Materie einzusteigen. Jeden Raum der Alten Villa hatte das Vorbereitungsteam mit – anfangs verhangenen – thematischen Bildern ausstaffiert: zum Beispiel der heilige Sebastian von Pierre et Gilles zusammen mit einer Fessel, die „Vertreibung aus dem Paradies" plus einem Apfel, im Fernsehen lief ein Schwulenporno – daneben lagen Gleitgel und Kondome –, oder ein leerer Bilderrahmen zum „Bildersturm". Begrüßungsrunde und Einstieg bestand aus fröhlichem Cruisen durch die Alte Villa zu derjenigen Installation, welche jeden Teilnehmer spontan am meisten ansprach. Klavierklänge, Männergesang und der obligatorische Saunaduft setzten das Kennenlernen bis weit in die Nacht gemütlich fort.
Ausgeschlafen teilte sich am Samstag das Feld: Thomas Wagner vertiefte seinen Werkstatt-Artikel „Ein Blick auf die schwule Ikonostase", Martin Hüttinger durchmaß „Ikonographie und Ikonoklasmus". Jürgen Deelmann konfrontierte seinen Workshop mit Grundzügen der Spiegel-Kommunikation aus Peter Schellenbaums Werk „Stichwort: Gottesbild" (Stuttgart 1981). Insbesondere die tiefenpsychologische Tragweite sogenannter „dunkler" Gottesbilder (z.B. strafend-züchtigender Gott, Aufpasser-Gott) faszinierte den Kreis und regte die Diskussion entlang folgender Schriftzitate und Thesen an:
Ăśber das Bildermachen
Du sollst Dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am
Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde. (Ex 20,4)
Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber
schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden
bin. Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe. (1 Kor 13,12-13)
Hört das Wort nicht nur an, sondern handelt danach, sonst betrügt ihr euch selbst. Wer das Wort nur hört, aber nicht danach handelt, ist wie ein Mensch, der sein
eigenes Gesicht im Spiegel betrachtet: Er betrachtet sich, geht weg, und schon hat er vergessen wie er aussah. Wer sich aber in das vollkommene Gesetz der Freiheit
vertieft und an ihm festhält, wer es nicht nur hört um es wieder zu vergessen, sondern danach handelt, der wird durch sein Tun selig sein. (Jak 1,22-25)
Die Liebe befreit ... aus jeglichem Bildnis. Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir
lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben, solange wir sie lieben. Man höre nur die Dichter, wenn sie lieben: Sie tappen nach Vergleichen, als wären sie betrunken...
Warum? So wie das All, wie Gottes unerschöpfliche Gerämumigkeit, schrankenlos, alles Möglichen voll, aller Geheimnisse voll, unfassbar ist der Mensch, den man liebt – nur die Liebe erträgt ihn so.
Du sollst dir kein Bild machen, heiĂźt es, von Gott. Es dĂĽrfte auch in diesem Sinne gelten: Gott als das Lebendige in jedem Menschen, das, was nicht fassbar ist. Es ist
eine Versündigung, die wir, so wie sie an uns begangen wird, fast ohne Unterlass wieder begehen – Ausgenommen wenn wir lieben. (Max Frisch, Tagebuch
1946-1949)
1 Die Wahrheit kann man nicht haben, nur Bilder lassen sich festhalten.
2 Was sich festhalten lässt, lohnt sich nicht festzuhalten.
3 Bilder sind lebensnotwendig, aber ihre Ăśberwindung ist ebenso wichtig. Zur Ăśberwindung brauchen wir neue Bilder, die dann wiederum ĂĽberwunden werden mĂĽssen.
4 Es gibt kein Wort, das nicht ein Bild ist. Unsere Sprache ist eine Bildersammlung.
5 Gott selbst ist kein Bild, aber wir haben nur Bilder von ihm.
6 Gott hat von uns kein Bild.
7 Bilder versuchen sich selbst als absolut zu setzen.
8 Es gehört zu unserer Begrenzung, das Bild und die Sache oder Person zu
verwechseln. – Immer dann, wenn wir einen Reifungsschritt weiter machen können, fällt uns der Unterschied auf. Reifen heißt dann: Bilder loslassen.
9 Statische Bilder sind immer LĂĽgen. Sogar in Steinen bewegen sich die MolekĂĽle noch.
10 Von anderen Menschen haben wir nur Bilder. Aber sie sind nicht ihre Bilder.
11 Die Kraft in Bildern kommt aus unserem Glauben an sie. Wir entscheiden, welchen Bildern wir glauben, auch welchen Gottesbildern.
12 Es ist wichtig, dass uns Bilder irgendwann enttäuschen. Sonst würden wir sie nie loslassen. Meistens lassen wir nur los, was wir eigentlich schon nicht mehr haben.
13 Mehr Energie wird darauf verwandt, kaputte Bilder zu flicken, als neue Bilder, reifere Bilder, (auf dem Weg in die Bildlosigkeit) zu suchen. Bilder zu flicken gleicht Wasser mit einem Sieb zu schöpfen.
14 Zerbrochene Bilder lassen die Wahrheit, die hinter ihnen liegt, stärker durchscheinen.
15 Die Liebe zum andern und zu mir verbietet mir, mich an das Bild, das der andere
von mir hat, zu halten. Wenn ich es täte, ginge ich ihm und mir dabei verloren.
16 Enttäuschung ist ein Hinweis, dass ein Bild kaputtgeht. Jede Enttäuschung führt
aus der Illusion, aber nicht unbedingt näher an die Wahrheit.
17 Auch ich habe ein Bild von mir, aber ich erlebe immer erst mich und dann mein Bild.
18 Misstraue diesen Aussagen. Sie sind Bilder. Wenn sie dich auf den Weg in die Bildlosigkeit locken, haben sie ihren Dienst getan.
(Ulrich Schaffer)
Wolfgang SchĂĽrger berichtet aus seinem Kreativ-Workshop:
„Was lag angesichts des Themas 'Last und Lust der Bilder' näher, als sich ihm auf
kreative Weise anzunähern: Welches sind die Bilder, die uns aufgrund unserer religiösen Sozialisation belasten, welche setzen befreiende Visionen in uns frei?
Kreidebilder entstanden, dreidimensionale Collagen – ein buntes Spektrum der Bilder, die in uns sind und uns bestimmen. Schon auf den ersten Blick wurde dabei
deutlich, welche Veränderungen zwischen den Generationen stattgefunden haben: gerade die Älteren unter uns brachten in ihren Darstellungen deutlich Kämpfe mit einem sehr traditionellen Gottesbild zum Ausdruck.
Zwei Beobachtungen waren fĂĽr mich im Laufe des Tages sehr interessant:
Ich hatte die beiden Teile des Tages bewusst ganz parallel aufgebaut:
Kreativ-Phase, Betrachtungs-Phase, Vertiefungs-Phase. Alle Teilnehmer waren anfangs etwas skeptisch, wie sie die belastenden Bilder zum Ausdruck bringen
könnten. Doch sehr bald waren sehr ausdruckstarke Werke entstanden. Im Rückblick des Nachmittags war dann die einhellige Meinung, dass die positiven, befreienden
Bilder die wesentlich größere Herausforderung dargestellt hatten.
Auf diesen positiven Darstellungen fiel auf, dass das Kreuz, wenn ĂĽberhaupt, dann
nur in gebrochener Form vorkam. FĂĽr alle von uns stellte das Kreuz in seiner traditionellen Form offenbar kein befreiendes Element unseres Glaubens dar. Was
dies für eine schwule theologia crucis bedeutet, konnte leider nur noch kurz andiskutiert werden. Eine Vertiefung auf einer der nächsten Tagungen oder in der Werkstatt wäre sicherlich lohnend."
Aus den Gruppen mit mehr oder weniger rauchenden Köpfen entlassen versammelten sich alle zum feierlichen Abendmahlsgottesdienst, dem Andreas und Sieghard vorstanden. In Gebet und Betrachtung konnte jeder Anregungen, Erkenntnisse und Fragen der vergangenen Stunden einfließen lassen. Das von der exzellenten Küchencrew bildschön kredenzte Buffet lieferte seinen Beitrag zum intensiven, doch rundum gelungenen Tag.
Sonntags galt nach Rückblick und Stimmungsbild der Dank aller Teilnehmer dem Vorbereitungsteam aus Andreas, Jürgen und Sieghard, die viel Zeit und Kreativität in die Jahrestagung investiert hatten. Mit einer Fülle von Ideen und Vorschlägen wurden die Münsteraner Arnd, Hagen, Jan und Veit auf den Weg geschickt, Mesum 2001 vom 19. bis 21. Oktober vorzubereiten. Erste Gedanken zum Thema „Gotteserfahrung und Sexualität" wollen sie in der Werkstatt vorstellen, um die Debatte bereits im Vorfeld anzureißen. Die Mitgliederversammlung der „Arbeitsgemeinschaft Schwule Theologie" schloss zumindest den offiziellen Part; auf Autobahn oder Schiene setzte so manches Grüppchen die Tagung angeregt fort.
Christian Herz, kath. Diplomtheologe, lebt in MĂĽnchen und arbeitet bei der Stadtverwaltung. Er betreut die Abonnenten und Kasse der Werkstatt. Der Beitrag erschien in WeSTh 7 (Heft 4/200), S. 331-333.
Wege aus dem Exil
Leider liegen keine Berichte vor.
"doch ĂĽber der Zisterne leuchtet die Nacht"
Leuchtende Sterne ĂĽber der Zisterne
Anmerkungen zum Thema des Treffens in Mesum im Oktober 1998
Jeg har aldri gjort noe galt
Alt jeg tenker pĂĄ
Og alt som jeg har glemt
Alt jeg ikke gjør og
Noe som har hendt
Lars Saabye Christensen1
ICH HABE NIE ETWAS FALSCH GEMACHT
Wer würde eingestehen, diesen Refrain des obigen Gedichtausschnittes jemals ausgesprochen zu haben? Ich bin vielleicht nicht immer bescheiden, aber das wäre
dann doch zuviel. Trotzdem gehörte dieses Gedicht lange Zeit zu meiner Lieblingslyrik. Ich sehe es als ein Gedicht, das Mut macht. Mut, den Weg, den man
unbewußt schon eingeschlagen hat, weiterzugehen. Derartige radikal dem Leben enthobene Formulierungen wie „Ich habe nie etwas falsch gemacht" sind für mich
manchmal notwendig, bergen wohl etwas Mystisches in sich, das seine temporäre Wirkung hat, ihrer bedarf, und die Bedeutungsebene ganzheitlich ins Ungewisse
erhöht und ausweitet, indem das ganze Leben in den Blick genommen wird, quasi zeitlos.2 Vielleicht ist ja auch das Coming-Out eine dergestalte zeithafte Bestimmung
des Zeitlosen, eine Zeitenwende, die sich eigentlich noch nicht zwischen der Tiefe der Gefühle und dem „neuen" Leben entschieden hat, auch wenn die Richtung
vorgegeben ist. Ich empfand dies als eine Phase, in der ich vieles wesentlich absoluter sah als zuvor. Es ist eine Phase, für die ich – im nachhinein gesehen – sehr
dankbar bin, da diese Erfahrung der Überhöhung, der Zeitlosigkeit, so deutlich war, daß selbst ich sie bemerken mußte, daß sie zu einem der nicht sehr zahlreichen Denkmäler meiner Vergangenheit wurde.
Obwohl einige in Mesum an der Imaginationskraft der Begriffe zweifelten, wĂĽrde ich doch gerne ersteres (die Welt der GefĂĽhle) als die Welt der Zisterne und letzteres
(das „Neue") als die Welt der Sterne bezeichnen. Im folgenden soll es um den Weg hin zum Blick aus der Zisterne zu den leuchtenden Sternen gehen oder weniger
metaphorisch ausgedrückt: „Sich befreien ist nichts; frei sein können ist das Schwierige."3
IN DER ZISTERNE
In einer Zisterne ist man nicht freiwillig, man wird hineingeworfen. Zisterne – das
klingt wie ein Begriff aus befreiungstheologischer Terminologie. Zisterne – das klingt wie ein Gefängnis, wie Verlorenheit im Dunkel nasser Kälte. Es verwundert nicht, daß
die Zisterne auch mit Schwermut in Verbindung gebracht wird.4 Eine Zisterne macht das Abgesondertsein ĂĽberdeutlich, wer in ihr ist, ist ausgegrenzt, vom Tode bedroht.
Spätestens hier ist die Frage, ob dieses Bild für die Gefühlswelt nicht viel zu hoch gegriffen ist, zu stellen. Egal, wie positiv oder negativ man sein Coming-out, um bei
diesem Beispiel zu bleiben, erlebt hat, so denke ich, daß das Bild der Zisterne sehr aussagekräftig ist.
Bei einschneidenden Erlebnissen bin ich immer geneigt, sie aus dem Alltäglichen
herauszulösen und zu verabsolutieren, das heißt im nachhinein Unwichtiges wegzulassen, mich auf das Wenige zu begrenzen, sie vielleicht gar ein wenig zu
verfälschen, um das mir Wichtige hervorzuheben. Die Zisterne ist für mich ein schönes Bild für das Anderssein, das sich in den eigenen Gefühlen manifestiert. Die
Welt der Zisterne ist eine eigene Welt, sie zu verlassen ist unmöglich. Sie läßt sich höchstens verdrängen. Schwule sind in einer Zisterne, in einer eigenen Welt, haben
eine eigene spezielle Biographie und werden sie auch weiterhin haben, trotz aller Akzeptanz und Annährung an anderes, werden also die Zisterne nicht verlassen.
Gewinner lassen sich nicht von der Masse beeinflussen, sondern gehen ihren eigenen Weg, treten aus der Masse heraus, meint Jürgen Höller, ein
Unternehmensberater. Sind Schwule also dazu prädestiniert, „sicher zum Spitzenerfolg"5 zu kommen? Wird die Werkstatt in drei Jahren das tonangebende
theologische Journal Deutschlands sein? Wollen wir es nicht hoffen. Das Bild der Zisterne ist ein radikales Bild, das deswegen aber nicht falsch ist. Wer auf die lange
Sicht „Gewinner" bleiben will, tut aber gut daran, Kompromisse zu schließen und sich auf andere und anderes einzulassen. Das Bild der Zisterne soll also in seiner Breite
eine wichtige Lebensabschnittserfahrung deutlichmachen, die Erfahrung des Schicksals, des unschuldig Leidenden. In Zeiten, in denen Heterosexualität noch
immer ansteckend ist, ist die Zisterne wohl kein rundherum falsches Bild.
DER BLICK ZU DEN STERNEN
In der Zisterne richte ich mich ein, je länger ich drin bin, umso heimischer werde ich. Ich erkenne die Grenzen an, die gesetzt sind, gebe auf, gegen sie zu rebellieren,
versuche, das Beste daraus zu machen. Ich gewinne die eigene Perspektive, die sich aus meiner eigenen Lebenswelt entwickelt.
Irgendwann gibt sich diese Perspektive nicht mehr mit der Mauer zufrieden; egal, wie
gut ich mich eingerichtet habe, der Blick richtet sich auf das hereinfallende Licht, wendet sich nach oben, wandelt sich. Es ist nicht die Sonne, die fasziniert, es sind
die vielen kleinen Sterne, die den Blick in die Weite schweifen lassen. Die Sonne macht traurig, die Sterne lassen hoffen.
Doch Sterne sind weit weg. Besonders dann, wenn man selbst der Meinung ist, daĂź
der Griff zu den Sternen einem nicht gelingt, nicht gelingen kann. Sterne sind unerreichbar, der Griff zu den Sternen ist unmöglich. Weiß man dies, nämlich, wo die
Sterne zu finden sind, daß sie unerreichbar sind, kann man Sterne erst wirklich als Sterne sehen. Anders ausgedrückt: Es gehört ein Impuls dazu, seinen
Lebenshorizont zu erweitern. Ein Impuls, der in einem selbst geweckt wird. Ich bin mir nicht sicher, wie dieser Impuls auszusehen hat; ich denke nicht, daĂź er sich ohne
weiteres beschreiben läßt. Es ist wohl die Wendung vom „Coming-out" zum „Coming-in", vielleicht ja eben zur Selbstreflexion. Ich bin mir nicht schlüssig, ob der
Begriff des „Coming-in" brauchbar ist, oder nur ein schlechtes Sprachspiel darstellt. Es soll jedenfalls zeigen, daß es kein Sich-Abfinden bedeutet, sondern ein
Weiterarbeiten. Dies scheint mir der Begriff des Coming-outs nicht zu verdeutlichen, die Phrase des lebenslangen, immerwährenden Coming-outs halte ich für extrem
platt, da sich meines Erachtens die Markierungen, die Koordinaten verschieben. Die Lebensgestaltung gewinnt eine Zielrichtung, die sich aus der Vergangenheit, der
Zisterne, ergibt und mit ihr als „Neues" in ein Spiel tritt.
LEUCHTENDE STERNE ĂśBER DER ZISTERNE
Damit hat eine Wahl stattgefunden. Aus der Beliebigkeit der Möglichkeiten wird ausgewählt, entwächst eine Perspektive. Nicht nur die eine, blendende Sonne ist da,
sondern eine Vielzahl an größeren und kleineren Sternen. Durch die Betrachtung öffnen sich viele neue Einsichten, durch die Auswahl erst wird die Zielrichtung
gewonnen. Der Standpunkt bestimmt die Perspektive mit, aber nicht allein er bestimmt sie. Genauso bedeutend ist dafĂĽr, wie man sich in der Zisterne eingerichtet
hat. Das kann wesentlich von der Zisterne selbst bestimmt sein, muĂź es aber nicht.
Die Zisterne bewirkt einen stärkeren Bedacht auf die Möglichkeit der Wahl durch das
Bewußtsein, wie eine nicht erwählbare Lebenserfahrung erlebt werden kann, zumindest aber zeigt sie die Möglichkeit der Abgrenzung, der Differenzierung. Das
Eingerichtetsein in der Zisterne kann sich kaum völlig von der Zisterne loslösen, die Zisterne kann nicht aufgehoben werden, der Grad des Bezugs auf sie kann sich
ändern. Jedoch sind die Sterne eben nicht nur aus der Zisterne heraus betrachtet unerreichbar, dies wird nur deutlicher bewußt. Die Lokalisierung des eigenen Ortes
geschieht (zumeist wohl unbewuĂźt) im Spiel der Beziehungen.
Es stellt sich nun die Frage, ob es sich hier nicht um eine Verengung, eine Einengung
der Perspektive handelt. Ja, dem ist so. Dies ist aber nichts, was von vornherein negativ ist. Ohne Perspektiveneinengung wäre Leben nicht möglich. Ist man sich
darüber bewußt, gewählt zu haben, gewinnt die Wahl an Bedeutung. Die Erfahrung in der Zisterne muß nicht nur auf die Homosexualität beschränkt sein, sie kann in
meinem eigenen Leben öfters auftreten wie auch im Heterovolk. Die eigene Identität kann nicht auf Dauer absolut gesetzt werden. Das Einrichten in der Zisterne meiner
Sexualität ist jedoch mein Spezifikum. Eine Schwule Theologie oder eine Theologie aus schwuler Perspektive oder eine Theologie schwuler Theologen befindet sich
also, egal wie sie sich nennt, nur bedingt in einer undurchlässigen Zisterne. Ich wage aber die These, daß Theologie nur dann ihre volle Kraft erreichen kann, wenn sie aus
(irgendeiner) Zisterne kommt. Das impliziert, daĂź Theologie zentral aus der Prophetie heraus lebt, denn die Zisterne lehrt, was ein Prophet ist. Anderssein als Lebenserfahrung wird dadurch zu einem Gewinn.
1 „Ich habe nie etwas falsch gemacht
Alles, woran ich denke
Und alles, was ich vergessen habe
Alles, was ich nicht tue und
Etwas, das geschehen ist" –
Dies ist der letzte Teil des Gedichts „Der Schatten" des norwegischen Autors Lars
Saabye Christensen (Ăśbers. von mir). Es ist fĂĽr die CD Dronning Mauds Land (1991/1992) geschrieben.
2 Da die Zukunft an sich keine bestimmbare Zeit ist, sehe ich sie als
zeitenthoben an. Gerade weil die Zeit ganzheitlich in den Blick genommen ist, löst sie sich auf.
3 Gide, André: Der Immoralist, Stuttgart, 1997 (franz. Originalausgabe 1902), S. 14.
4 Vgl. etwa Bohren, Rudolf: In der Tiefe der Zisterne. Erfahrungen mit der Schwermut, MĂĽnchen, 1990.
5 So der Titel des Hörbuchs von Jürgen Höller, nach eigenen Angaben einer
der teuersten Unternehmensberater der Welt. Die Kassette ist 1998 erschienen.
Thomas O. SĂĽlzle. Der Beitrag erschien in WeSTh 6 (Heft 1/1999), S. 4-7.